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Dienstag, 29. Januar 2013

Eine Frage der Perspektive

Die #aufschrei und die Sexismusdebatte allerorten lässt mich ratlos. Eine öffentliche Aktion aus "mutigen Bekenntnissen" über züngelnde Männer im öffentlichen Nahverkehr Aktion, die - was eigentlich - sein will? das Äquvalent zu den Massenprotesten in Indien nach einer furchtbaren, brutalen Vergewaltigung mit Todesfolge im Kontext von astronomischen Vergewaltigungszahlen, die mit den deutschen nicht vergleichbar sind? So inakzeptabel die angeführten Entgleisungen sind, ich finde, kaum eine hat das Gewicht, das die Aktion ihnen verleihen will.

Sexismus und sexuelle Gewalt sind mir nicht fremd. Ich wurde als junge Frau einmal nachts auf dem Weg zu Fuß nach Hause von hinten überfallen - ein Unterarm um meinen Hals, eine Hand auf meinem Mund - ich konnte mich durch heftige Gegenwehr und Schreien losmachen, einmal wurde ich von einem Bekannten vergewaltigt, und einmal fand ich mich in einem Zug voller Männer, der in einer eisigen Nacht an einem kleinen Bahnhof vor einer Staatsgrenze stehen blieb, weil die Bahnangestellten im Nachbarland streikten, entfernte mehrfach Männerhände von meinen Brüsten und nahm schließlich das Angebot eines Schaffners an, mit ihm auszusteigen. Er hatte Dienstschluss, lebte in der Nähe und versprach, mich zu einem Busbahnhof in seinem Heimatort zu fahren, von wo ich weiterkäme. Mir war vorher alles klar, aber im Zug zu bleiben, war überhaupt keine Option. Wir fuhren auf einer Landstraße durch Berge und Wald. Wann immer er abbremste oder abbiegen wollte, hielt ich ihm mein CS-Gas vors Gesicht und fauchte "Fahr weiter, sonst bist du blind!". Am Ende wartete er am menschenleeren Busbahnhof mit mir und ließ den Motor laufen, weil ich in der eiskalten Nacht nicht stundenlang hätte im Freien warten können. Der Bus kam, er fuhr nach Triest, von dort kam ich weiter.

Nachdem ich als junge Frau ins Ausland ging, nahm ich sexuelle Übergriffe bald als normal wahr und glaubte, dass sie jeder Frau passieren. Die wenigen Frauen, mit denen ich darüber gesprochen habe, in Osteuropa, nie in Deutschland, machten kein Gewese darum, wozu? Das Leben geht so oder so weiter. Je nachdem, wo in der Welt man lebt, ist es bis zu 5mal wahrscheinlicher, vergewaltigt zu werden, als an Brustkrebs zu erkranken, oder ebenso wahrscheinlich, wie in Mitteleuropa mit blauen Augen geboren zu werden. Wenngleich mich die erwähnten und andere Erlebnisse in den nachfolgenden Jahren nicht ganz glücklich beeinflusst haben, hefte ich mir nicht das Attribut traumatisiert an. Ich habe mich beruflich qualifiziert, konnte immer für meinen Lebensunterhalt aufkommen und habe lange Beziehungen geführt. Gäbe es eine Skala sexueller Gewalt von 1 bis 10, würde ich die 10 mit Schicksalen wie beispielsweise dem einer Ruandesin besetzen, die beim Abendessen mit ihrem Mann und ihren 12 und 14jährigen Töchtern überfallen wurde, die Gruppenvergewaltigung ihrer Kinder mitansehen musste, ebenso wie die Verstümmelung und Ermordung ihres Mannes, selbst mehrfach brutal vergewaltigt und gezwungen wurde, den Penis ihres Mannes zu essen. Sie erzählt ihre Geschichte in einer Dokumentation im Netz, und es gibt einen fragwürdigen Film einer britischen Aktivistengruppe, der ebendieses Verbrechen mit blonden Engländerinnen in einer Vorstadtvilla nachspielt, in der Annahme, das öffentliche Bewusstsein sei deshalb so desinteressiert an sexueller Gewalt in Afrika, weil es sich um dunkelhäutige Bewohner des dunklen Kontinents handle*. Das also wäre ein Beispiel für eine 10, und daran gemessen läge meine eigene Anamnese unter 1, und eine verbale Anmache durch einen armseligen unappetitlichen alten FDP-Sack wäre gar nicht messbar. Länder wie der Congo, Erithrea und Indien, in denen 60-70% der Frauen angeben, mindestens einmal sexuelle Gewalt erlebt zu haben, sind in meiner Wahrnehmung nicht abstrakt und nicht weit weg, auch wenn ich nie dort war. Eine Handvoll Freunde haben für das Peace Corps und für USAID in Ruanda, Somalia und dem Congo gearbeitet, auch in Rehabilitationsprojekten für traumatisierte Frauen, wir haben oft darüber gesprochen. Aus dieser meiner ganzen Sozialisierung in diesem Zusammenhang entspringt mein Unbehagen mit #aufschrei. Die Verhältnismäßigkeit passt nicht. Den Begriff des Traumas anzuwenden oder zu suggerieren im Zusammenhang mit Männern, die starren, oder züngeln, oder sexistische Bemerkungen fallen lassen, finde ich vermessen und respektlos gegenüber Frauen, die tatsächlich unvorstellbar brutale sexuelle Gewalttaten überlebt haben.

Vorletzten Sommer saß ich mit meiner deutschen Freundin M in einem Beachclub am Fluss in Lutenblag. Wir trugen Sommerkleidchen, lümmelten in Liegestühlen, redeten und tranken Weißwein. Keine 5 Meter von uns, gerade außerhalb des Beachbar-Geländes, lag ein Mann auf einer mitgebrachten Klappliege und starrte uns an. Er stellte seine Liege um, offenbar um einen Blick unter unsere Röcke zu erhaschen. Ich sah ihm ins Gesicht und dann auf seine Erektion. Er drehte sich auf den Bauch. Ich ging zu ihm hin und sagte, er solle sich verpissen, sonst bekäme er mehr Ärger, als er sich vorstellen könne. Er tat zu Unrecht beschuldigt, wusste nicht, was ich meinte, trollte sich aber. Aber M wollte nicht mehr bleiben. Sie sagte, sie habe das Gefühl, er hätte sie angefasst, beschmutzt und erniedrigt. Ich war darüber verblüfft. Ich fand nämlich andersherum, dass sich der Mann als erbärmliches Stück Ungeziefer vor uns abgrundtief erniedrigt hatte und fühlte mich selbst davon ganz unangetastet. Ich war zufrieden, eine Schmeißfliege verscheucht zu haben, M´s Nachmittag war davon ruiniert, dass es die Schmeißfliege überhaupt gab. Ich fand, soviel Bedeutung hatte er nicht verdient.

Aber, wie die die Kaltmamsell drüben schreibt, geht es nicht um sie, und natürlich auch nicht um mich. Wir leben in unterschiedlichen Umständen, machen unterschiedliche Erfahrungen, ziehen unterschiedliche Schlüsse daraus und sehen dieselben Dinge aus unterschiedlichen Winkeln.

Mir ist von den erlebten Übergriffen keine Angst geblieben. Die Erinnerung an das Adrenalin, mein pumpendes Herz in den Carotiden, messerscharfe Wahrnehmung und Geistesgegenwart und unbeschreibliche, rasende Wut. Keine Angst. Wenn du mich nicht loslässt/mich anfasst, werde ich dich verletzen. Ich komme davon, du nicht. Meine Nichtangst ist so überwältigend, dass sie mir beinahe Angst macht. Ich konfrontiere Männer, die dumme Sprüche machen oder mir in der vollen Straßenbahn an den Hintern fassen, immer. Ich sehe ihnen in die Augen und fauche sie an, sodass alle Umstehenden hören, dass diese Ratte mich betatscht hat. Ich würde aus geringstem Anlass zutreten oder schlagen oder sprühen. Ich konnte Femme de la Rue kaum aushalten, die nichtendenwollende Ansammlung von Triggern für meine Aggression. Wie kann sie einfach weitergehen und nichts tun? Ich bin leicht und nicht groß und mein Verstand weiß, dass ich mit ein bisschen Fitness und Selbstverteidigungskurs und Pfefferspray nichts ausrichten könnte gegen einen gewieften Gewaltverbrecher, der einen Plan hat, mir etwa Trapanal in den Gesäßmuskel injiziert, mich bewusstlos in seinen Kofferraum wirft und in einem Kellerverlies, das nur durch eine versteckte Tapetentür zu erreichen ist, ankettet. Aber wieviele davon gibt es schon? Die meisten sind dumpfe Idioten, ohne Hirn, das Blut steckt gerade woanders, und ohne Plan. Ich weiß, ich überschätze mich, aber was soll ich machen? Ich habe keine Angst und bilde mir ein, dass mich das schützt.

Aber es geht nicht um mich. Ich respektiere M sehr und stelle mir Frauen wie sie hinter #aufschrei vor. Ich sehe ein, dass es schöner wäre, wenn man sich gar nicht erst gegen menschliche Schmeißfliegen wehren müsste. Man muss aber, sofort und unmittelbar und hörbar und unmissverständlich. Man kann es in den meisten Fällen auch. Sich in der kleinen deutschsprachigen Twitter- und Bloggergemeinde zu wünschen, sich nicht wehren müssen zu wollen, erreicht die Delinquenten doch nicht. Ich wünsche mir eine Verhältnismäßigkeit in der Diskussion, in der Sexualverbrechen einen öffentlichen Aufschrei generieren, Bemerkungen besoffener Deppen über Brüste aber nicht. Das sind sie nicht wert. Das muss man unaufgeregter regeln.

In Ottfried Preußlers Werk wird herumkorrigiert - nachdem wir ihn alle als Kinder im Original gelesen haben und trotzdem wissen, dass man Menschen dunkler Hautfarbe nicht Negerlein nennt. Da wird es doch auch möglich sein, Jungs beizubringen, sich Mädchen gegenüber respektvoll zu artikulieren und die Finger von ihnen zu lassen, bis sie die Erlaubnis zur Berührung erhalten. Und den Mädchen, ihre Grenzen zu kennen und deutlich mitzuteilen.

(*Wenn Sie wissen, wovon ich rede, stellen Sie die Links gern in die Kommentare; ich humple mit gedrosselter Surfgeschwindigkeit auf der Stelle und kann nicht suchen.)

nachtschwester - Dienstag, 29. Januar 2013, 01:06 - Fallstudien
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Sonntag, 16. Dezember 2012

Der Kürbisverkäufer

Samstag früh ging ich auf meinen Lieblingsmarkt und kaufte einen Kürbis an einem Stand, der nur Kürbisse anbot. Ich zeigte auf einen mittleren Butternutkürbis. "Gute Wahl" sagte der Kürbisfachverkäufer. Er beklopfte den Kürbis, warf ihn in die Luft, fing ihn auf, hielt ihn vors Ohr, schüttelte ihn und roch daran. "Gute Wahl, Nachbarin", bekräftigte er und legte den Kürbis auf die Waage. 2kg, 60 Cent. Ob er ihn spalten solle, damit ich mich zu Hause nicht abmühen muss? Gern, sagte ich. Er teilte den Kürbis mit einem präzisen Schlag seines Kürbisbeils sauber in zwei Hälften. Die leuchtend orangefarbenen Schnittflächen hielt er mir strahlend vors Gesicht. "Schaun Sie sich das an, Nachbarin. Was für eine Farbe, was für ein Duft!? Was für eine wunderbare Frucht! Ein Gottesgeschenk, nicht wahr? Es ist gleich halb drei, ich muss bald einpacken und nach Hause fahren. Wissen Sie, ich bin jeden Tag ein bisschen traurig, wenn ich aufhören muss, diese Schönheiten zu verkaufen."

nachtschwester - Sonntag, 16. Dezember 2012, 21:25 - Zufallsbefunde
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Der Zahnarzt

Mein Empfinden für Preisgefüge hat sich in Osteuropa verändert. Ich sehe ein, dass ich für dieselbe Dienstleistung mit denselben Materialien und in derselben Qualität in Deutschland doppelt oder auch dreifach zahlen muss, weil sie in Deutschland erbracht wird und nicht in einem Schwellen- und Niedriglohnland. Aber ein Heil-und Kostenplan, der auf das Fünffache dessen aufgeblasen ist, was G in Lutenblag berechnet, ist dreist und absurd. Ich ging mehr aus Protest in Lutenblag zum Zahnarzt, nicht aus Armut. Und dann mochte G meinen Zahn gar nicht überkronen, ich musste insistieren. Er hätte lieber bloß den ausgebrochenen Teil der Füllung ordentlich geflickt, für ein Zehntel des Betrages, den die Krone kostete, statt Zahnsubstanz wegzuschleifen.

Die Zahnärzte, die ich in München aufgesucht hatte, sind auf Angstpatienten spezialisiert. Beruhigt es einen Phobiker, das auf dem Praxisschild zu lesen, oder belastet ihn das zusätzliche Etikett, das zweite Stigma? Nicht nur sind die Zähne vergammelt, man hat obendrein ein psychisches Problem, das eines Spezialisten bedarf? Und wieso braucht es dafür Spezialisten? Ich fragte G, was er mit Patienten macht, die schlimme Angst vorm Zahnarzt haben. G sagte, er setzt sich zu ihnen ins Wartezimmer, trinkt Kaffee mit ihnen, schaut mal kurz in den Mund, sie reden über Politik, Fussball, und ein bisschen über Zähne. Dann schickt er sie nach Hause. Sie kommen wieder, sie trinken Kaffee, sie lernen sich kennen. Mit einem Patienten habe er ein Dreivierteljahr lang nur geredet, bevor er sich auf den Behandlungsstuhl setzte. Wenn ängstliche Kinder das erste Mal kommen, malt er im Wartezimmer Bilder mit ihnen, und schickt sie danach nach Hause. Beim zweiten Mal nimmt er sie mit in den Behandlungsraum, setzt sie auf den Stuhl und lässt sie hoch und runter fahren. Beim dritten Mal zeigt er ihnen seine Instrumente und poliert ihnen damit die Fingernägel. Danach gebe es meistens keine Probleme mehr.

Das geht in Molwanien, weil Zeit keinen Geldwert hat. Niemand käme auf die Idee, Gesprächszeit abzurechnen. Zeit, die mit jemandem beim Kaffee oder Wein oder Schnaps im Gespräch verbracht wird, ist ein Zeichen von Respekt und Freundschaft und gegenseitiges Geschenk.

nachtschwester - Sonntag, 16. Dezember 2012, 12:28 - Zufallsbefunde
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Im warmen Nest bei -17 Grad

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Im Anflug auf Lutenblag dachte ich, wie ich an die 60 Mal hier gelandet bin, das erste Mal vor genau 10 Jahren. Die Landebahn war damals so kurz, dass der Pilot auf den ersten Zentimetern aufsetzte und dann vollbremste. Man stieg aufs Rollfeld hinunter, atmete den Blick über das weite Tal und die Gebirge rechts und links tief ein, und ging zu Fuß zum schäbigen Flughafengebäude. Der Boss hatte mir seinen fast 70jährigen Chauffeur geschickt, Onkelchen K. Weil Onkelchen K. sein Leben lang Regierungsangehörige gefahren hat und man ihn kannte, durfte er mir auf das Rollfeld entgegenkommen. Er hielt ein Blatt Papier hoch, auf das jemand meinen Namen gekritzelt hatte, in kyrillischen Buchstaben, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht flüssig lesen konnte. Jedenfalls fand er mich, schleuste mich beschleunigt durch die Passkontrolle und redete ununterbrochen auf mich ein. Ich verstand kein Wort. Der Boss hatte gesagt, Molwanisch, Kroatisch, Russisch - alles eins. Sprichst du eine slawische Sprache, kannst du alle, und Molwanisch, das Urslawische, sowieso. K´s Redeschwall ließ mich leider völlig ratlos.

Onkelchen K. bugsierte mich zum Parkplatz, brach einen Streit mit dem Parkwächter von Zaun, danach mit einem Mautkassierer auf der Autobahn. K war notorisch auf Kriegsfuß mit seiner Umwelt. Der Boss war in ständiger Sorge um seine Koronarien. Wir fuhren durch eine ländliche Gegend. Ich konnte die Schilder nicht lesen. Schließlich fuhren wir in eine Stadt ein, die nicht wie eine Hauptstadt aussah. Onkelchen K. fuhr über den Plastikboulevard, der so heißt, weil dort auf einem Kilometer Länge rechts und links Haushaltswaren aus Plastik verkauft werden, aus Geschäften heraus, von Ständen, vom Gehweg. Dort herrschte großes Gedränge. Menschen, Straßenhunde, Autos, Mopeds, Pferdekarren, Taxis, alles fuhr kreuz und quer, hupte, schimpfte, gestikulierte. Onkelchen K. hielt mittendrin an und stieg aus. Er müsse für seine Gattin etwas besorgen, verstand ich, und ließ mich in diesem orientalischen Gewimmel allein. Erst Jahre später habe ich den Plastikboulevard angstfrei begangen und schätzen gelernt. Muffinförmchen? Müslischüsseln? Staubsaugerfilter? Handfeger? alles da, in riesiger Auswahl, für ein paar Cent. Nachdem K einen Putzeimer gekauft hatte, brachte mich in ein Hotel an einem Flussufer und ließ mich allein. Ich textete an Herrn Nachtschwester in Hamburg: "Bin gut angekommen. Weiß nicht genau, wo."

Am nächsten Abend ging ich mit dem Boss essen. Er raste mit seinem Grand Cherokee durch die Stadt und ungebremst über Kreuzungen. Wie das hier mit der Vorfahrt sei, fragte ich angespannt? Das größere Auto hat Vorfahrt, ganz einfach, sagte der Boss.

Mittlerweile wurde der Flughafen von den Türken übernommen und ausgebaut. Letzte Woche warteten zum ersten Mal weder Onkelchen K noch der gute C. auf mich, der K nach dessen Pensionierung abgelöst hatte. C hatte mich während der Fahrt immer über die aktuelle politische und die Wetterlage gebrieft. Vor dem blitzenden und blinkenden Flughafengebäude stehen nunmehr uniforme weiße Mercedes-Taxis der nagelneuen Airport Taxi-Gesellschaft, nicht mehr das bunte Rostlaubensammelsurium wie noch vor zwei Jahren. Vor der Taxi-Reihe ein Tumult aus Fahrern und Fahrgästen. Wohin, fragte mich ein Fahrer. Zentrum, Nähe katholische Kirche, antwortete ich. Moment, sagte der Fahrer und ließ mich stehen. Ich begriff, dass sie die Fahrgäste nach Stadtteilen sortierten und unter lautem, kompliziertem, langatmigem Palaver auf möglichst wenige Taxen verteilten. Da war ich gerade 5 Minuten im Land und steckte schon wieder mitten in ihrem nervtötenden Orientbazartheater, ich will kein Taxi teilen und auf niemanden warten, jetzt fahr mich zackig einer in die Stadt, es stehen genug Taxen rum! Aber dann erinnerte ich mich, dass 20 Euro Flughafentransfer in Molwanien sehr, sehr viel Geld sind, der Flughafen von öffentlichen Verkehrsmitteln nicht angefahren wird und die Fahrer ihren Fahrgästen nur Geld sparen wollen. Ich teilte mir also einen Wagen und die Kosten mit einer Molwanierin, die tatsächlich bei M um die Ecke wohnte.

Meine amerikanische Freundin M. war gerade von der Arbeit gekommen. Sie begrüßte mich flüchtig mit Küsschen, als hätten wir gestern noch zusammen Kaffee getrunken. "Ich muss zum Sport, P und G kommen gleich, du erinnerst dich? die kochen uns was."

P und G machten sich in M´s Küche zu schaffen und gaben mir viel von dem guten, lang vermissten molwanischen Merlot zu trinken.

Ich rief in G´s Praxis an. Ich brauche eine Backenzahnkrone. G´s Facebookprofil ist deaktiviert und er hat nicht auf meine SMS geantwortet. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, um meinen Zahnarzt. Aber G geht ans Telefon und freut sich ein Loch in den Bauch. Wir verabreden uns für den nächsten, Samstag, Morgen.

nachtschwester - Sonntag, 16. Dezember 2012, 10:52 - Externe Einsätze
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Freitag, 7. Dezember 2012

Es ist kalt.

Ich stapfte heute abend durch den Schnee Richtung Tollwood, mich noch kurz auf einen Glühwein treffen, bevor ich morgen nach Lutenblag fliege, und dachte auf dem Weg durch die Bahnunterführung, wie ich nun schon beinahe ein Dreivierteljahr in dieser Stadt festhänge, das wollte ich so nicht, die dabei unbestrittene Vorzüge hat, aber wie eng mir alles ist, die Wohnung, der Freundeskreis, der Job, seine Sinnhaftigkeit, das Gehalt, alles kleiner als vorher, und wie sich das schon auf mein Denken niederschlägt, meine Sorglosigkeit und innere Freiheit einzwängt, und dass ich etwas ändern muss, pronto. Und wie ich mich freue, in ein paar Tagen wieder mit Freunden in weißen Landrovern mit schwarzen Lettern drauf ins wilde Land zu fahren.

Vor mir hielt ein fetter schwarzer X3 auf dem Radweg. Radwege zu blockieren ist in München ganz besonders unerhört und wagemutig und mit Risiken für Leib und Fahrzeug verbunden und erregte deshalb meine Aufmerksamkeit. Eine Frau stieg aus und rutschte ein bisschen mit ihren Lederabsätzen auf dem Glatteis. Sie hatte eine Bettdecke im Arm, gelb bezogen mit Teddybären drauf und schlitterte an mir vorbei Richtung Unterführung. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie breitete die Decke über einen Obdachlosen aus, der dort in einem gammeligen Schlafsack lag und den ich im Vorbeigehen nicht mal bemerkt hatte.

Ich war völlig verblüfft. Diese Frau sieht, es schneit und friert, lädt die Karosse voll mit zu Hause nicht mehr benötigten Hilfsgütern und fährt durch die Stadt auf der Suche nach Bedürftigen? Wieso denke ich nicht mal an sowas? Die alte Falle, der Kreisel um sich selbst, die giftige, hohle, irrelevante, reiche, verwöhnte, verachtete Frage "bin ich glücklich", statt nach anderen zu sehen.

nachtschwester - Freitag, 7. Dezember 2012, 01:25 - Zufallsbefunde
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Donnerstag, 31. Mai 2012

Das Märchen von der Heimkehr

Ich habe keine echten Probleme und sehe auch keine bei anderen. Ich gehe Menschen aus dem Weg, die Alltagsärgernisse für echte Probleme halten, aber es sind viele. Ich habe wieder eine deutsche Meldeadresse, an er ich mich auch physisch aufhalte. Mir stehen 14 Gehälter zu, Arbeits- und Urlaubszeit sind vertraglich geregelt und bald wäre ich wieder arbeitslosen- und elterngeldberechtigt. Ich trenne wieder Müll. Ich muss vorher nicht in den Container schauen, um zu vermeiden, jemanden mit Abfall zu bewerfen, der sich gerade sein Mittagessen sucht. Ich stolpere auf Fußwegen der Innenstadt nicht über schlafende Kinder. Sie klettern auch nicht an roten Ampeln auf mein Auto und bespucken es, wenn ich ihnen kein Geld gebe. Es regnet zu Hause nicht durch die Decke, das Waschbecken fällt nicht von der Wand, keine Kakerlaken laufen durch mein Wohnzimmer, keine streunenden Hunde lungern im Hausflur. Wenn mir Unrecht geschieht, kann ich jemanden verklagen. Ich kann nicht aus fadenscheinigen Gründen des Landes verwiesen werden wie letzten Winter aus Molwanien. Die Regierung treibt meinen Arbeitgeber nicht in den Ruin, wenn er sie kritisiert, wie den Boss. Ich bin vernünftig krankenversichert und muss mich nicht jedesmal wochenlang mit dem BDAE um mein Geld streiten, wenn ich beim Arzt war. Viel weniger Arbeit wird von mir verlangt und ich bin viel schneller damit fertig, weil kein slawischer Sprachstammsplitter-Muttersprachler jedes Memo, jede Email und Präsentation von mir erst Korrektur lesen muss. Der Job hier ist wie Urlaub.

Kontakte und Gespräche hatten sich nicht schnell genug zu einem Vertrag materialisiert. Ich wollte nicht in den Jemen oder nach Pakistan. Ich wurde ein bisschen nervös und mailte zwei Bewerbungen nach München, nur so, initiativ, weil da auch Berge in der Nähe sind. Bekam zwei Anrufe, fuhr zu zwei Gesprächen, lernte zwei nette Teams kennen, bekam zwei Zusagen und nahm das bessere Angebot. Es ist nur ein Spatz in der Hand, ohne internationale Komponente und wird mich in zwei Monaten anöden. Ich kann auch die Ineffizienz, Lahmarschigkeit und Ressourcenverschleuderei im deutschen Gesundheitswesen nur noch schwer ertragen. Aber zwischenmenschlich ist es sehr angenehm. Und mein Leitmotiv ist so ein vages Sehnen nach, siehe Absatz 1, geordneter bürgerlicher Existenz, nach 50seitigen deutschen Steuererklärungen und der Illusion von Sicherheit, die man unterbewusst mit diesen Dingen verknüpft. Ich verstoffwechselte verlangsamt, dass ich dafür in den bayrischen Landesdienst eintreten musste. Zum 1. April. Ja, das ist lustig.

Neben den aufgeführten guten Gründen, nach Deutschland zurückzukehren, gibt es genau so viele, die dagegen sprechen.

Man hat Fähigkeiten und Kenntnisse erworben, die zu Hause niemand braucht. Wenn Sie, wie eine amerikanische Freundin, etwa seit Jahren für Finanzunternehmen Hilfsprojekte internationaler Organisationen in Schwellenländern zwischenfinanzieren, können Sie mit ihrem Expertenwissen zu Hause kein Geld verdienen und immer nur weiter von Abchasien in den Kosovo nach Armenien nach Usbekistan nach xy vagabundieren. Eine andere, erfahrene GUS-Expertin, ist ein halbes Jahr vor mir zurückgekehrt, schwanger von einem Münchner und mit Existenzängsten, denn Demokratieentwicklungsexperten werden in Bayern eher nicht gesucht. Wenn man im Heimatland Arbeit findet, ist die Tätigkeit ist nicht besonders besonders, denn plötzlich gibt es Tausende mit demselben Abschluss, die Ihre Arbeit genauso gut machen könnten. In Bangladesh/Eritrea/Kirgistan/Molwanien hing alles von Ihnen ab, nun sind Sie austauschbar. Was Sie von Ihren Kollegen abhebt, Ihre kulturelle Kompetenz, Ihr Improvisationstalent, Ihre Unerschütterlichkeit in Krisen, Sie kommen nämlich gerade aus einer Dauerkrise, Ihr C2-Englisch und Ihre Nischenfremdsprachen, ist zu Hause irrelevant. Deshalb verdienen Sie auch so viel weniger als vorher im Ausland, dass es weh tut. Auch wenn Ihre Stelle überhaupt nicht besetzt wäre, ginge das Schiff, aufs Ganze gesehen, kaum unter. Das Prestige und die Mission sind weg, und nebenbei bemerkt haben Sie auch keine Haushälterin und keinen Personal Trainer mehr.

Ein Land mit einer anderen Kultur und einem anderen Lebensstandard verändert Ihre Perspektive auf eigentlich alles. Das trennt Sie von den Daheimgebliebenen. Sie meinen, Sie haben spannende Geschichten zu erzählen? Kein Mensch will sie hören, am wenigsten die, die fragen, wie es da so war. Die wollen eigentlich nur Ihre Bestätigung dafür, dass die Zivilisation an den Grenzen der EU 15 oder höchstens EU 25 aufhört und erst in Nordamerika oder Australien weitergeht und man sich dazwischen, wenn überhaupt, nur im abgeschirmten Raum des Pauschaltourismus bewegen kann.

Kurz gefasst: mit der Rückkehr können Sie Ihren Lebensstandard nicht halten, wenn Sie überhaupt einen Job finden, ist er ohne globalpolitische oder humanitäre Weihen, d.h. aus Ihrer Sicht banal und überflüssig, und Ihre Erfahrungen machen Sie einsam. Für die emotionale Reaktion darauf gibt es einen Begriff, Re-Entry Shock, das ist das Gegenteil vom Kulturschock beim Auswandern, aber härter, es gibt Bücher und Ex-Expat-Selbsthilfeseiten dazu im Netz.

Aber ich komme zum dritten Mal zurück. Das erste Mal war ich 22, Studentin, unvorbereitet und habe tatsächlich sehr gelitten. Heute tappe ich nicht mehr in die Falle, mich reintegrieren zu wollen. Ich sitze nur vergnügt ein bisschen in München im Hier und Jetzt auf der Pausenbank und warte, bis es weitergeht. Am besten lebt es sich zwischen allen Stühlen.

Meine GUS-Freundin hat inzwischen ein usbekisches Aupair fürs Baby, koordiniert eine Stiftung gegen Kinderarmut und ist froh, dass sie Arbeit hat. Sie hat engagierte junge Mitarbeiter, die die Kinderarmut in München voll Hardcore finden und gar nicht ahnen, wie weltfremd und dumm sich das für ihre Chefin anhört, siehe Bild 2 und 3 unten.

Ein molwanischer Freund hat mir letzte Woche ein paar Antisentimentalitäts-Schnappschüsse aus der Metropole geschickt,

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aber ich weiß, dass gerade die Linden anfangen zu blühen und die ganze Stadt bis Mitte, Ende Juli danach duften wird.

nachtschwester - Donnerstag, 31. Mai 2012, 02:16 - Fallstudien
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Sonntag, 18. März 2012

Ich vermisse

Meine Dachwohnung in dem Haus, das wie ein Turm frei am Hang steht. Den ersten Blick beim Aufwachen vom Kopfkissen direkt ins Morgenrot. Von der Sonne zum Frühaufstehen gezwungen werden. Das Haus hat keine Briefkästen, weil Oma immer zu Hause ist. Der Briefträger trinkt mit ihr Kaffee, das Haus ist das letzte auf seiner Route. Wenn Post für mich dabei war, legte sie sie oft mit Blumen aus dem Garten vor meine Tür, vor allem die Rechnungen:

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Den Berg hinter dem Haus. Die Sonntagsfrühsportroutine von 8 km und immerhin 800 Höhenmetern bis zum Gipfel, von dem aus man die dreimal so hohen Molwanischen Alpen sehen kann und Molwanier trifft.

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Die Molwanischen Alpen und anderen Gebirgszüge.

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Lutenblag, die Metropole.

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Die magische Stadt am See. An den meisten Tagen ist das Licht so diffus, dass der Wasserspiegel ohne Horizont scheinbar fließend in den Himmel übergeht.

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Die Sommerwochenenden in Afitos. Das ist ein Fischerstädtchen auf dem ersten Finger der Chalkidiki. Falls Sie mal in die Gegend kommen, lege ich Ihnen diese Unterkunft uneingeschränkt ans Herz. Ebenso diese hier in Vourvourou auf dem zweiten Finger.

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Die fabelhaften Lebensmittel. Essen, das im Restaurant auf Platten in die Tischmitte serviert wird wie beim Abendessen zu Hause.

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Am meisten die molwanische Gelassenheit und Lebensklugheit, die man sich zulegt, wenn man sich täglich mit Lösungen echter Probleme herumschlägt, statt im Zustand gesättigter Grundbedürfnisse nutzlos um Befindlichkeiten zu kreisen.

nachtschwester - Sonntag, 18. März 2012, 22:43 - Externe Einsätze
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Mittwoch, 29. Februar 2012

Wenn das...

... mal kein Zeichen ist? Aber wofür?

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nachtschwester - Mittwoch, 29. Februar 2012, 15:29 - Zufallsbefunde
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Sonntag, 26. Februar 2012

Wochenende

Gestern spontan die Cabrio-Saison eröffnet und offen ins eine Stunde entfernte Skigebiet gefahren.

Auch viele Molwanier nutzten das strahlende Wetter für Familienausflüge im offenen Wagen.

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An Tagen wie diesen fällt es mir sehr schwer, abends Umzugskisten zu packen.

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