Tilman Nagel: Kämpfen bis zum endgültigen Triumph

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25. November 2006, Neue Zürcher Zeitung

Über Gewalt im Islam

Von Tilman Nagel

Hat Allah den muslimischen Belagerern durch eine List das Eindringen in Tripolis erleichtert? Oder war es nicht so, dass er ihnen die Stadt erst nach einem blutigen Kampf in die Hände gab? Die hitzige Debatte über diese Frage, deren Zeuge ich vor bald dreissig Jahren auf einem Treffen vorwiegend muslimischer Historiker wurde, kam mir in den Sinn, als ich die in einem offenen Brief formulierte Antwort von achtunddreissig muslimischen Würdenträgern auf den Regensburger Vortrag des Papstes las: Dass der Islam weitgehend mit dem Schwert verbreitet worden sei, halte einer Überprüfung nicht stand. Den debattierenden Historikern war damals gerade die kriegerische Ausbreitung des Islams eine unumstössliche Tatsache, geeignet, den Ruhm der einzig wahren Religion zu mehren. Ihnen standen die zahllosen Belege hierfür vor Augen, angefangen mit den einschlägigen Passagen des Korans (etwa Sure 9, Vers 29 oder Vers 111) über die grossen Hadith-Sammlungen (z. B. al-Bucharis langes Kapitel über den Jihad) bis hin zu den viele tausend Seiten füllenden Berichten in den arabisch-islamischen Universalgeschichten und den ebenfalls sehr umfangreichen Spezialabhandlungen über die Feldzüge Mohammeds und über die Eroberungen unter den ersten Kalifen.

TAKTIK

Geläufig werden ihnen auch die Versuche der Verrechtlichung dieser Überlieferung gewesen sein, die sich im Kern unter Harun ar-Raschid (Regierungszeit: 786-809) vor dem Hintergrund seiner Kriege gegen das Byzantinische Reich vollzog. Die damals erarbeiteten Konzepte sind bis auf den heutigen Tag von keiner muslimischen Autorität widerrufen oder auch nur ernsthaft in Frage gestellt worden. Sie besagen, dass sich das «Gebiet des Islams» so lange auf Kosten des «Gebietes des Krieges» zu erweitern habe, bis dieses verschwunden sei; angesichts dieses Zieles dürfen alle Vereinbarungen mit den «Ungläubigen» nur taktischer Natur sein.

Modifikationen wie die Einführung des «Gebietes des Vertrags» für ein Territorium, auf dem die islamischen Riten bereits ungehindert praktiziert werden, das aber noch nicht unter muslimischer Herrschaft steht, haben an diesem Ziel nichts geändert. Ihm untergeordnet sind auch die um 800 zum ersten Mal zusammengefassten Regelungen zur Ausbeutung der unterworfenen «Ungläubigen»; diese lässt sich vor allem dann ungehindert ins Werk setzen, wenn ein Territorium laut muslimischer Definition «mit Gewalt» annektiert worden ist, also nicht im Zuge eines Unterwerfungsabkommens.

Die vom Koran, von den frühen Überlieferungen und ihrer islamrechtlichen Durchdringung getragene Überzeugung, gerade im machtpolitischen Erfolg beweise sich die Wahrheit des Islams, ist ungebrochen lebendig geblieben. Ja sie drängt sich wieder in den Vordergrund des muslimischen Selbstverständnisses, seitdem die Periode der westlichen Hegemonie über die islamische Welt zu Ende gegangen ist. Dies gibt uns den Anlass, nach den in der islamischen Botschaft liegenden, von äusseren Gegebenheiten unabhängig wirkenden Impulsen des Dominanzstrebens zu fragen. Wir betrachten zu diesem Zweck Sure 2, «Die Kuh», einen Text, der kurz vor der Schlacht bei Badr (624) entstand. Sie galt während der medinensischen Jahre Mohammeds als eine Zusammenfassung der von ihm verkündeten Lehren. Allah, dem einen Schöpfer und nimmermüden Lenker des Diesseits (Vers 255, der sogenannte Thronvers), gebührt eine ebenso unermüdliche, ausschliesslich ihm gewidmete Verehrung durch den Menschen; diese ist der auf Allahs Geheiss von Abraham gestiftete Islam.

Ein wesentliches Element dieses Islams ist die Pilgerfahrt zu dem von Abraham und Ismael errichteten mekkanischen Heiligtum (Vers 125 ff.). Als ein «Abraham redivivus» (vgl. Vers 129) knüpft Mohammed an dessen Mission an und führt seine mekkanischen und medinensischen Anhänger in den Krieg gegen Mekka, dessen massgebliche Männer den von Mohammed propagierten «abrahamischen» Kult ablehnen und den Propheten nebst seiner Gefolgschaft von der Teilnahme an der Wallfahrt ausgeschlossen haben (Vers 190-193).

Ein unabscheidbarer Teil der «abrahamischen» Pilgerriten sind die Tieropfer (Vers 196), die Juden und Christen nicht kennen. Für Mohammed sind sie selbstverständlich, und indem er dies bekundet, macht er sich das Gedankengut der vorislamischen arabischen Gottsucher (Hanifen) zu eigen; diese ersehnten eine von Allah gestiftete und somit authentische Ritualpraxis (arabisch: «din»), die das Tieropfer einschliessen würde. Eben diesen Wunsch erfüllt Mohammed mit der Verkündigung von Sure 2, die wesentliche rituelle und darüber hinaus einige lebenspraktische Bestimmungen enthält. Da Mohammed beansprucht, die authentischen Riten wiedereinzuführen, müssen seine Vorgänger im Prophetenamt ebenfalls Tieropfer angeordnet haben, so auch Mose. Dass Mose dies getan habe, wird – unter Missdeutung von Numeri 19 – ebenfalls in Sure 2 (Vers 67-73) dargelegt.

Die Israeliten seien Moses Gebot nur widerstrebend gefolgt. Schon lange beachten sie es nicht mehr, was Mohammed mit der Klage andeutet, sie hätten die zu ihnen gesandten Propheten getötet. Auch wegen anderer Akte des Ungehorsams hätten sie sich Allahs Zorn zugezogen (Vers 61), seien gar in Affen verwandelt worden (Vers 65). Schon die genannten Gottsucher waren davon überzeugt gewesen, dass die Juden und die Christen nicht, wie diese selber behauptet hätten, die Lieblinge Allahs seien, sondern unter seinem Zorn und Fluch stünden – die Christen wegen der Vergottung Jesu. In Vers 111 spricht Mohammed aus, in wie fataler Weise Juden und Christen sich über ihr Verhältnis zu Allah täuschen. Er ist es, der die einzige zu dem einen nimmermüden Schöpfer und Erhalter der Welt (Vers 255) passende Ritualpraxis, die «abrahamische», verkündet; sie ist authentisch, da frei von jeglicher Spur menschengemachter Beimengung, frei von jeglichem Zwang, so dass nun, da diese Praxis verkündet wurde, Wahrheit und Irrtum deutlich voneinander geschieden sind und ein Festhalten am Falschen nicht mehr hinnehmbar ist (Vers 256).

KEIN ZWANG?

Indem man aus Vers 256 die Formulierung «. . . kein Zwang in der Ritualpraxis (din)» herauslöst und so begreifen möchte, als lautete sie: «. . . kein Zwang zu einem (bestimmten) Glauben», gewinnt man einen Scheinbeleg für eine in der koranischen Botschaft angeblich enthaltene Religionsfreiheit. Weder sonst im Koran noch im Hadith oder in den Überlieferungen zur Prophetenvita findet man einen Hinweis darauf, dass Mohammed mit diesem Gedanken gespielt habe. Er sah sich vielmehr berufen, mit allen denkbaren Mitteln die Befolgung der von ihm für wahr erkannten Riten durchzusetzen, die, da erstmals von Abraham verkündet, älter als Judentum und Christentum seien und schon allein deshalb richtig (Sure 3, 64 f.).

Die Befolgung der «abrahamischen» muslimischen Riten – das war für ihn der entscheidende Gesichtspunkt. Er konnte sich vorstellen, dass auch Juden oder Christen seinen Riten zustimmten; für diesen Fall wäre alles in bester Ordnung, denn im Übrigen glaubten sie ja wie er an den einen Schöpfergott und den Jüngsten Tag. So kann er in Sure 3 sagen: «Ihr (Muslime) seid die beste Gemeinschaft, die je für die Menschen gestiftet wurde. Ihr gebietet, was recht ist, verwerft, was unrecht ist, und glaubt an Allah. Wenn die ?Schriftbesitzer? ebenfalls glaubten, wäre es besser für sie. Es gibt zwar Gläubige unter ihnen, aber die meisten sind Übeltäter.» (Vers 110) Ausdrücklich appelliert er zuletzt in Sure 5, Vers 19 an die «Schriftbesitzer», sie sollten ihm, dem Propheten, der ihnen die Wahrheit bringt, gehorsam sein; denn wären sie wirklich die Günstlinge Allahs, würde dieser sie nicht strafen (Vers 18) – Worte, die unter dem Eindruck der ersten mit jüdischen und christlichen Gemeinschaften geschlossenen Unterwerfungsabkommen gesprochen wurden.

In seinem Aufsatz «Über Gewalt im Christentum» (NZZ 14. 10. 06) hat Hans Maier darauf hingewiesen, dass die christlichen Lehren selber stets zu einer innerchristlichen Kritik an der Ausübung von Zwang gegen Andersgläubige Anlass gaben; das Gebot der Liebe, die auch den Feinden zu gelten hat, entzieht derartigem Vorgehen von vornherein jegliche Rechtfertigung. Eine Delegitimierung der gewaltsamen Ausbreitung des Glaubens ist aus dem Munde Mohammeds nicht überliefert. «Mir wurde nur aufgetragen, gegen die Menschen zu kämpfen, bis sie sagen: ?Es gibt keinen Gott ausser Allah!? Wenn sie dies sagen, dann schützen sie ihr Blut und ihr Vermögen, und die Abrechnung mit ihnen obliegt Allah (am Jüngsten Tag).» Entweder als ein Teil der Predigt Mohammeds bei seiner «Abschiedswallfahrt» oder als ein eigenständiges Vermächtnis (allein fünf Belege bei al-Buchari) wird dieser Satz überliefert.

WENN DER RUF VERHALLT

«Mir wurden fünferlei Dinge zuteil, die vor mir noch nie jemand erhielt: Dank dem Schrecken wurde mir der Sieg (bis in eine Entfernung) von einer Monatsreise verliehen; die ganze Erde wurde mir als Gebetsplatz und als rituell rein übergeben, wo immer den Muslim die Gebetszeit erreicht, dort betet er; mir, niemandem vor mir, wurde die Kriegsbeute erlaubt; mir wurde die Fürsprache (bei Allah) zugestanden; die früheren Propheten wurden zu einem bestimmten Volk entsandt, ich zu den Menschen insgesamt.» Diesem von al-Buchari (810-870) überlieferten Wort Mohammeds wird in anderen Quellen bisweilen als sechster Vorzug der Empfang der Schlüssel zu den Schätzen der Welt hinzugefügt. In das Jahr 634 geht die älteste Aussenwahrnehmung des Islams zurück: Unter den Sarazenen sei ein kriegerischer Prophet erstanden, der behaupte, über die Schlüssel zum Paradies zu verfügen, doch eben weil er Krieg führe, könne man nicht glauben, dass jener wirklich ein Prophet sei.

Schon früh ist Mohammeds Reden und Handeln für die erdrückende Mehrzahl der Muslime zum verpflichtenden Vorbild geworden, und auch die kriegerischen Züge sind im Laufe der islamischen Geschichte ein ums andere Mal hervorgehoben und als nachahmenswert gerühmt worden. Es ehrt die achtunddreissig muslimischen Würdenträger, dass ihnen die dargelegten Tatsachen im Dialog mit Andersgläubigen so unangenehm sind, dass sie sie am liebsten verdecken möchten. Auf die Unkenntnis der Gesprächspartner dürfen sie freilich nicht mehr zählen. Fast alle der genannten Texte sind inzwischen zumindest auf Englisch verfügbar.

Kein Muslim zu sein, sei nie ein legitimer «casus belli» gewesen, schreiben die achtunddreissig. In der Tat, erst wenn der «Ruf zum Islam» dreimal ignoriert wurde, durfte der Angriff erfolgen, so jedenfalls wollte es Mohammed. Oft ist von muslimischer Seite zu hören, es habe sich allein um Verteidigungskriege gehandelt – in deren Verlauf man nach Tours und Poitiers, bis vor Wien, nach Innerasien, Indien usw. gelangte. Schliesslich wird gern behauptet, man habe nicht zur Ausbreitung des islamischen Glaubens, sondern lediglich zur Etablierung islamischer Herrschaft Krieg geführt; die Unterworfenen hätten als «Schutzbefohlene», als Menschen zweiter Klasse, ja ihren Glauben behalten dürfen. Die Untauglichkeit dieser Entlastungsargumente ergibt sich schon daraus, dass sie untereinander inkompatibel sind.

Ein redlicher Dialog muss sich durch schonungslose Offenheit auszeichnen. Das Dilemma, in das ein solcher Dialog die Sachwalter des islamischen Erbes bringen wird, wird zugestandenermassen nicht gering sein: Ein Beharren auf dem Verpflichtungscharakter des Vorbildes Mohammeds, zumal der kriegerischen Züge, ist in einer auf friedliche Koexistenz angewiesenen Welt nicht mehr vertretbar. Damit wird jedoch die Frage unabweisbar, inwieweit Koran und Hadith, die eben auch diese kriegerischen Seiten Mohammeds bezeugen, generell ewig wahre Quellen des Denkens und Verhaltens der Muslime bleiben können. Wäre es nicht vernünftiger, nach Art der Mutaziliten des 9. und 10. Jahrhunderts den konkreten in ihnen enthaltenen Daseinsmustern eine Gültigkeit allein für das Arabien Mohammeds zuzuerkennen? Noch ist dies eine Vorstellung, bei der es manchen der achtunddreissig Würdenträger schaudern mag.

Tilman Nagel ist als Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität in Göttingen tätig. Er hat zahlreiche einschlägige Bücher verfasst, u. a.: «Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen» (2001); «Der Koran. Einführung – Texte – Erläuterungen» (4. Auflage 2002).

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: www.nzz.ch/2006/11/25/li/articleENPV0.html

 

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